Zweitligist Hannover 96 gewinnt vor 30 Jahren den DFB-Pokal

Berlin, Berlin – Hannover 96 fährt nach Berlin. Zweitligist gewinnt vor 30 Jahren den DFB-Pokal.

Für die Fußballfans von Hannover 96 ist der 23. Mai ein ganz besonderer Tag. Traditionsbewusste Anhänger haben ihn im Kalender rot markiert. 1954, im Jahr, in dem Deutschland erstmals Weltmeister wurde, gewann die Mannschaft des Trainers Helmut Kronsbein durch ein 5:1 im Endspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern die Deutsche Meisterschaft.  Exakt 38 Jahre später, am 23. Mai 1992, gelang Hannover 96 als Zweitligist mit dem 4:3-Finalsieg im Elfmeterschießen gegen den Favoriten Borussia Mönchengladbach eine der größten Überraschungen in der Geschichte des DFB-Pokals und zugleich ein historischer Erfolg. Bis heute sind die Roten, wie der Verein in Hannover genannt wird, der einzige unterklassige Club, der den „Pott“ gewinnen konnte.

Hannover –  Auch 30 Jahre nach dem Sensationssieg im Berliner Olympiastadion strahlt der Coup der Mannschaft von Trainer Michael Lorkowski eine große Faszination aus, Hannover 96 war nicht nur der erste Zweitligist, sondern auch der erste niedersächsische Verein, dessen Name auf dem Sockel der fast 52 Zentimeter hohen und 5,7 Kilogramm schweren Trophäe graviert wurde. Der VfL Wolfsburg folgte dem Nachbarn 2015 mit einem 3:1-Finalerfolg über Borussia Dortmund. „Für die Zweitligisten wird es zwar immer schwieriger, aber irgendwann wird es mal einen Verein geben, der unser Kunststück wiederholt“, sagte der frühere 96-Profi Karsten Surmann im Gespräch mit dem Niedersächsischen Institut für Sportgeschichte (NISH).

Beim Kapitän der Pokalsieger-Mannschaft, der eine Fußball-Schule in Hannover betreibt, laufen weiterhin alle Fäden zusammen. Er hält den Kontakt zu seinen früheren Mitspielern und zu Trainer Lorkowski, per Telefon und per WhatsApp-Gruppe.  Ähnlich wie beim Silberjubiläum vor fünf Jahren ist zum 30. Jahrestag am 23. Mai ein Ehemaligen-Treffen geplant. 96-Profi-Geschäftsführer Martin Kind unterstützt diese Form der Traditionspflege, obwohl er vor 30 Jahren noch nicht zu den Entscheidern im Verein gehörte. Als Präsident während der bemerkenswerten Pokal-Saison amtierte der Rechtsanwalt Fritz Willig.

Erfolgscoach Lorkowski drohte Entlassung

„Wir waren damals eine durchschnittliche Zweitliga-Mannschaft, solide, doch nicht reif für den Aufstieg.  Aber wir waren eine tolle Truppe. Wenn es darauf ankam, konnten wir uns steigern“, erklärte Surmann. Eine Woche vor dem Pokalfinale hatte das Team die Saison 1991/92 in der 2. Liga Nord auf Platz fünf beendet. „Die Vereinsführung hätte Lorkowski beinahe noch kurz vorher entlassen“, erinnerte sich Surmann. Für den Coach war das Endspiel – unabhängig vom Resultat – das letzte Match auf der 96-Bank. Er hatte zuvor bereits einen Vertrag beim FC St. Pauli unterzeichnet.

Das Fußball-Magazin 11Freunde würdigte Anfang 2022 in seinem Spezial-Heft „DFB-Pokal“ auch des Finale 1992. Nicht unbedingt wegen der spielerischen Brillanz, die die eher unspektakuläre Nullnummer nach 90 Minuten plus Verlängerung verbreitete. Sondern wegen der besonderen Umstände und wegen des Trainer-Unikums Lorkowski. Autor Alex Raak spürte den inzwischen 67 Jahre alten Coach, der in seiner Karriere nie in der Bundesliga arbeitete und bis auf eine Ausnahme (Wuppertaler SV) nur norddeutsche Vereine betreute, in dem kleinen Dorf Stubben nordöstlich von Hamburg auf.

„Früher nannten sie Michael Lorkowski ‚Lord Lässig‘, weil er lange Haare hatte, in Travemünde eine der ersten Surfschulen des Landes eröffnete und später als Trainer in Lübeck der Einfachheit halber auf seinem zweimastigen Stahlschiff ‚Blaubart`‘ übernachtete. An den Beinamen kann er sich schon nicht nicht mehr erinnern. Geblieben ist eine leicht ergraute Coolness, die nichts damit zu tun hat, dass er seiner Freundin ab und an beim Eisverkauf assistiert“, charakterisierte Raak den Pokalsieger-Trainer.

Mit seinem norddeutschen Understatement führte der coole Coach das 96-Team zum ersten und bisher einzigen Mal ins Cup-Finale. Die bemerkenswerte Siegesserie bei Marathon Berlin (7:0), bei den Bundesligisten VfL Bochum (3:2) und Borussia Dortmund (3:2), gegen den Ligarivalen Bayer Uerdingen (1:0)  sowie gegen die Erstligisten Karlsruher  SC (1:0) und Werder Bremen (1:1 n.V., 6:5 im Elfmeterschießen) entfachte eine Pokal-Euphorie und hätte eine Warnung für den Endspielgegner Borussia Mönchengladbach und dessen Trainer Jürgen Gelsdorf sein müssen.

Torwart Sievers trifft und hält

Unvergessen ist das dramatische Halbfinale vor 57 000 Zuschauern gegen Werder Bremen, als Lorkowski, der als Aktiver im Tor spielte, beim Stand von 5:5 im Elfmeterschießen zu seinen Torhüter Jörg Sievers lief und ihn überredete, selbst zu schießen. Eine fabelhafte Idee. Sievers verwandelte zunächst gegen Werder-Keeper Jürgen Rollmann und parierte danach den Strafstoß von Bremens Nationalspieler Marko Bode. Seinen damit erworbenen Kultstatus als Pokalheld konnte „Colt“ Sievers dann im Endspiel nachhaltig untermauern.

Mehr als 15 000 Fans begleiteten die Niedersachsen nach Berlin, wo das Olympiastadion fast vollständig in Schwarz-Weiß-Grün eingetaucht war. Beide Clubs haben die gleichen Vereinsfarben. Siegertyp Michael Lorkowski, den die Frankfurter Rundschau in ihrem Vorbericht als „Derwisch von der Leine“ bezeichnete, hatte auf eine besondere Vorbereitung verzichtet. „Wir tun so, als sei dies ein normales Auswärtsspiel“, lautete die Devise des Turnschuh-Trainers, der folgendes Team aufs Feld schickte:

Jörg Sievers – Roman Wojcicki, Jörg-Uwe Klütz, Axel Sundermann – Bernd Heemsoth (120. Matthias Kuhlmey), Jörg Kretzschmar, Karsten Surmann, Oliver Freund, Michael Schjönberg – Michael Koch (71. Uwe Jursch), Milos Djelmas. Die Gladbacher mit ihren starken Offensivkräften wie Karlheinz Pflipsen, Martin Max und Martin Dahlin wirkten wie gehemmt gegen die engagiert kämpfende 96-Mannschaft. „Wir hätten eigentlich schon in der regulären Spielzeit gewinnen müssen“, erklärte Surmann.  Doch Heemsoth (67.), vom starken 96-Regisseur und Freigeist Djelmas glänzend in Szene gesetzt, vergab die beste Chance der Begegnung. Auf der anderen Seite rettete Sievers in der Verlängerung gegen Dahlin. 

Das finale Elfmeterschießen war ein Vabanque-Spiel. Auch Gladbach hatte in Uwe Kamps einen Experten zwischen den Pfosten, der im anderen Halbfinale gegen Bayer Leverkusen sogar vier Schüsse vom Punkt parieren konnte. Doch „Micha“, wie Surmann seinen ehemaligen Coach nennt, besaß erneut bei der Auswahl der Schützen den richtigen Riecher, auch wenn ihm der kurz zuvor eingewechselte Kuhlmey einen Korb gegeben haben soll.

„Micha ist halt Experte. Mich hatte er gar nicht gefragt. Ich hatte ja auch gegen Bremen verschossen“, erinnerte Surmann mit einem Schmunzeln an das Drama vom Punkt. Zunächst trafen die 96-Profis Djelmas, Wojcicki und Kretzschmar, während Freund an Kamps scheiterte. Dafür wehrte Sievers gleich zwei Elfmeter von Pflipsen und Holger Fach ab, so dass beim Stand von 3:3 der Däne Schjönberg als letzter Akteur die Nervenschlacht mit einem Schuss ins linke Eck beenden konnte.

Braune Sakkos und 50 000 Fans vor dem Rathaus

Da war es laut 11Freunde genau 20.37 Uhr und eine mehrtägige feucht-fröhliche Siegesparty begann. Die bierseligen Pokalsieger zogen direkt vom Stadion ins Aktuelle Sportstudio des ZDF, wo sie in braunen Sakkos, hässlich statt hübsch, Moderator Günter Jauch lautstark mit „Thomas Gottschalk-Rufen“ begrüßten. Bei der Party in einer Berliner Disco ging für einige Stunden der Pokal verloren. Nachwuchstürmer Andre Breitenreiter, heute Trainer des FC Zürich, hatte ihn laut Lorkowski mit in sein Bett genommen. Auch in Hannover war der Jubel riesig. Rund 50 000 Menschen bereiteten der Mannschaft am nächsten Tag auf dem Trammplatz vor dem Rathaus einen triumphalen Empfang.

Pokalsieger Offenbach kein wahrer Zweitligist

Bis heute zweifeln einige Fußball-Historiker die Besonderheit des 96-Pokalsiegs von 1992 an. So heißt es zum Beispiel im Wikipedia-Eintrag zu DFB-Pokal 1969/70: „Mit den Offenbacher Kickers wurde 1970 erstmals ein Zweitligist Pokalsieger“.  Zwar spielte Kickers Offenbach in der Saison 1969/70 in der Regionalliga Süd – damals die zweithöchste Spielklasse – und bezwang in einem spektakulären Cup-Finale den 1. FC Köln mit 2:1. Diese Partie fand aber erst am 29. August in Hannover statt und damit quasi in der nächsten Spielzeit.

Die Offenbacher waren Ende Mai als Regionalliga-Meister in die Bundesliga aufgestiegen und traten im Pokal-Endspiel mit ihrer neu formierten Erstliga-Mannschaft an. Das Team von Trainer Alfred „Aki“ Schmidt hatte zuvor bereits zwei Bundesliga-Begegnungen der Saison 1970/71 absolviert. Hintergrund war die Entscheidung des Deutschen Fußball Bundes (DFB), wegen der Weltmeisterschaft im Mai 1970 in Mexiko den Pokalwettbewerb der Saison 1969/70 mit Achtelfinale bis Endspiel erst im Juli und August zu beenden. 

Deshalb kann Hannover 96 als einziger wahrer Zweitligist bezeichnet werden, der seit 1935 den DFB-Pokal (inklusive des Tschammer-Pokals als dessen Vorgänger) gewonnen hat. Der Eintrag in die Geschichtsbücher brachte dem Verein aber weder Glück noch einen kurz- oder mittelfristigen Aufschwung. Das fing schon bei der Auslosung für den Europapokal der Pokalsieger an. Statt Liverpool oder Porto hieß der Gegner Werder Bremen. Unter Lorkowski-Nachfolger Eberhard Vogel scheiterten die Roten knapp mit 2:1/1:3. Vier Jahre nach dem Pokalsieg folgte 1996 zum 100. Geburtstag sogar der erstmalige Abstieg in die Drittklassigkeit.

Peter Hübner, 27. April 2022