High Noon im Hodlersaal
Hannover – Der amerikanische Film-Klassiker 12 Uhr mittags – Originaltitel „High Noon“ – kam im Januar 1953 in die deutschen Kinos. Im bundesdeutschen Nachkriegssport hieß es schon 25 Monate zuvor High Noon im Rathaus Hannover. „Die Gründung der Dachorganisation Deutscher Sportbund ist am Zehnten im Zwölften des Jahres 1950 Punkt 12 Uhr mit Einstimmigkeit vollzogen worden. Heil!“ Mit diesen markigen Worten gab Prälat Ludwig Wolker als Versammlungsleiter das Ergebnis der Schlussabstimmung über die DSB-Satzung vor 70 Jahren bekannt. Der ersehnte neue Einheitsverband des Sports nach dem Zweiten Weltkrieg war damit perfekt.
Turner und Fußballer leisten Vorarbeit
Fast 100 Delegierte von 23 Fachverbänden und 13 Landessportbünden hatten sich an diesem 10. Dezember 1950 im Hodlersaal des Rathauses eingefunden. Sie quittierten die Worte laut Protokoll „mit langanhaltendem Beifall“. Die Erleichterung war groß. Die Alliierte Militärregierung hatte zwar Ende 1945 die Gründung einer zentralen Sportorganisation über die Kreisgrenzen hinaus verboten. „Sie konnte aber entsprechende Initiativen der Sportbeauftragten in den neuen Ämtern und Behörden dennoch nicht stoppen“, schrieb Friedrich Mevert, ehemaliger Hauptgeschäftsführer des Landessportbundes Niedersachsen, in seinem Buch „50 Jahre Deutscher Sportbund“.
Bei mehreren interzonalen Konferenzen seit 1946 hatten sich die Vertreter der nach und nach gegründeten Landessportbünde und Fachverbände auf ein gemeinsames Vorgehen verständigt. Besonders Frankfurts Oberbürgermeister Walter Kolb als Präsident des Deutschen Turner Bundes (DTB) sowie Peco Bauwens als Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) stellten die Weichen. Doch ganz sicher konnte sich keiner der Sportführer sein, die mehrheitlich eine Aufteilung des Sports in verschiedene Lager (Arbeitersport, bürgerlicher Sport, konfessioneller Sport, Turnen) verhindern wollten.
Bis zum Schluss wurde nämlich um Macht, Einfluss, Posten und Positionen in der neuen Spitzenorganisation heftig gerungen. Selbst der Name Deutscher Sportbund (DSB) war umstritten. Er setzte sich gegen „Deutsche Sport- Union“ und andere Vorschläge wie „Deutscher Ausschuss für Leibesübungen“ durch. Der Turnerbund scheiterte mit seinen Anträgen, das Wort „Turnen“ im Namen der neuen Sport-Organisation oder zumindest im ersten Satz der DSB-Satzung einzubauen.
Willi Daume erster DSB-Präsident
Nach der Verabschiedung der Satzung standen die Wahlen zum ersten DSB-Präsidium auf dem Programm. Das Gremium umfasste einem Präsidenten, zwei Stellvertreter und bis zu zwölf Beisitzer. Der mächtige DFB zog in der Versammlung seinen Vorschlag Constanz Jersch für das Präsidentenamt zurück. Der 69 Jahre alte Fußball-Funktionär aus Bochum erschien vielen Delegierten wohl doch zu alt für einen Neuanfang. Damit war der Weg frei für Willi Daume. Der 37-jährige Präsident des Deutschen Handball-Bundes (DHB), ein Industrieller aus Dortmund, erhielt als einziger Kandidat in geheimer Wahl 64 von 84 Stimmen bei 18 Enthaltungen und zwei ungültigen Stimmzetteln.
Als erster Stellvertreter des ersten DSB-Präsidenten wurde danach Heinrich Hünecke per Akklamation bestimmt. Der Vorsitzende des LSB Niedersachsen hatte in Hannover ein Heimspiel. Die Wahl zum zweiten Stellvertreter entwickelte sich zu einem Duell. Max Danz (Kassel), einflussreicher Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), siegte knapp mit 40 Stimmen gegen Oscar Drees (Bremen). Der frühere Arbeitersportler, der für den LSB Bremen und den Fachverband Turnen antrat, erhielt 37 Stimmen bei sieben Enthaltungen. Die Turner reagierten frustriert, jemand verwies auf die Wahlordnung. Die verlangte für den Sieg mindestens die Hälfte der abgegebenen Stimmen. Das wären 43. Ohne die Enthaltungen hätten 39 Stimmen genügt.
Geste von Danz in prekärer Lage
Der erfahrene Versammlungsleiter Wolker, der für die katholische Deutsche Jugendkraft (DJK) nach Hannover gereist war und keinem Lager angehörte, erkannte eine „prekäre Lage“ und ordnete eine Pause an. Er schlug eine Stichwahl vor, das stieß aber bei den Delegierten nicht auf ungeteilte Zustimmung. Erst als Danz, Olympia-Teilnehmer von 1932 im 800 Meter-Lauf, von seinem Amt zurücktrat und empfahl, Drees als ehemaliges Mitglied des Arbeiter-Turn- und Sportbundes zu wählen, beruhigten sich die Gemüter. Der Bremer zierte sich zunächst, willigte dann aber in eine neue Wahl ein, die ihn einstimmig bei 18 Enthaltungen als zweiten Vizepräsidenten bestätigte.
Das Verhalten von Danz bewerteten Fritz Mevert und andere Historiker als „noble“ und „sportliche“ Geste. „Danz rettete die Situation“, erklärte im Jahr 2000 Bernhard Baier (Hannover), der als Präsident des Deutschen Schwimmverbandes Zeitzeuge der Ereignisse war. Die Geste entbehrt aber nicht einer gewissen Pikanterie. Denn während der Arzt aus Kassel in der Zeit des Nationalsozialismus der NSDAP beigetreten war und bis kurz vor Kriegsende im Krankenhaus arbeiten konnte, verlor der SPD-Politiker Drees seinen Job als Lehrer und wurde zweimal in ein Konzentrationslager gesteckt.
Doch über Politik wurde an diesem kalten Sonntag im Rathaus Hannover kaum gesprochen. Obwohl das Ende der Diktatur erst fünfeinhalb Jahre zurücklag, spielte die Frage, was man politisch zwischen 1933 und 1945 getan oder nicht getan hatte, kaum eine Rolle. Nur DSB-Präsident Daume machte eine Ausnahme. Er war 1937 in die NSDAP eingetreten. Nach Angaben des Historikers Jan C. Rode wurde er im Entnazifizierungsverfahren zunächst als „Mitläufer“, im zweiten Anlauf jedoch als „unbelastet“ eingestuft. „Es muss um alle Gegensätze einmal Ruhe sein. Es darf jetzt auch keinen Fall Diem mehr geben, mit allen möglichen Polemiken. Man muss auch vergessen können“, erklärte Daume in seiner Antrittsrede.
Niedersachsen/Bremen im Präsidium stark vertreten
Für Danz erwies sich der Rücktritt vom Amt des Vizepräsidenten nicht als Nachteil. Im Gegenteil. Bei den Beisitzer-Wahlen erzielte er mit 75 Stimmen das beste Ergebnis, und in den folgenden Jahren amtierte das spätere DSB-Ehrenmitglied als Delegationsleiter bei den Olympischen Sommerspielen von 1952 bis 1972. Eine zweite faire Geste durch Georg Maier vom Landessportverband Bayern ermöglichte einen reibungslosen Verlauf der Beisitzer-Wahlen. „Als er schweren Herzens auf seine eigenen Ambitionen verzichtet, kann, als Nummer 7 der Beisitzerliste, der Berliner Gerhard Schlegel vorgeschlagen und schließlich gewählt werden“, berichtete Andreas Höfer in der DSB-Chronik: „Der Sport – ein Kulturgut unserer Zeit.. 50 Jahre Deutscher Sportbund“
Während der DFB im ersten DSB-Präsidium überraschend fehlte, war Niedersachsen/Bremen mit fünf Vertretern überproportional vertreten. Neben den Vizepräsidenten Hünecke und Drees schafften auch Schwimm-Chef Bernhard Baier, Walter Wülfing (Hannover) als Präsident des Deutschen Ruderverbandes und Grete Nordhoff (Osterholz-Scharmbeck) den Einzug in die Sport-Regierung. Nordhoff gehörte als Vorsitzende des Frauenbeirats dem arg männerlastigen DSB-Präsidium offiziell erst seit Mai 1951 an.
Bis heute werden die DSB-Gründungsmitglieder gerne als „Männer der ersten Stunde“ bezeichnet. Die viel zitierte „Stunde Null“ ist da nicht allzu weit. Doch die Herren, die sich damals im Hodlersaal getroffen hatten – benannt nach dem Schweizer Maler Ferdinand Hodler und geschmückt mit einem Wandbild unter dem Motto „Ein einig Volk von Brüdern“ – waren nicht unbedingt jung, dynamisch und bereit für einen konsequenten Aufbruch in eine völlig neue Zeit.
Daume lobt Karl von Halt
Die 15 Präsidiumsmitglieder waren am DSB-Geburtstag zwischen 37 und 63 Jahre alt. Alle hatten bereits Erfahrungen als Sportler und/oder Sportfunktionäre gesammelt – einige in der Weimarer Republik (1918- 1933), andere im Dritten Reich (1933 – 1945). Ein personeller Neuanfang fand deshalb nicht statt. Das zeigt nicht nur das Beispiel Willi Daume, der in seiner abschließenden Antrittsrede, als viele Delegierte bereits zum Bahnhof wollten, explizit seinem „verehrten Freund Karl von Halt“ würdigte. Karl Ritter von Halt hatte in der NS-Zeit unter anderem die Olympischen Winterspiele 1936 in Garmisch-Partenkirchen organsiert und war von September 1944 bis Kriegsende Reichssportführer. Nach der Rückkehr aus einem sowjetischen Internierungslager amtierte er von 1951 bis 1961 als Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK). Dem DSB-Präsidium gehörte er von 1952 bis 1962 an. Daume löste von Halt 1961 als NOK-Chef ab. Bereits 1954 hatte das damalige DSB-Präsidium Guido von Mengden zum Hauptgeschäftsführer berufen. Der ehemalige Generalreferent des Reichssportführers Hans von Tschammer und Osten war ebenfalls ein Mann mit NS-Vergangenheit und arbeitete eng mit dem ersten DSB-Präsidenten Daume zusammen.
Jubiläumsfeier in Hannover
Trotz dieser mangelhaften Vergangenheitsbewältigung erwies sich der DSB in den Jahrzehnten nach seiner Gründung als Erfolgsmodell. Die politisch belasteten Sportführer brachten mit Erfolg ihre Organisations- und Führungsqualitäten ein. Breiten- und Leistungssport nahmen an Bedeutung zu, die Mitgliederzahlen stiegen auch dank Kampagnen wie „Trimm dich durch Sport“. Als größten persönlichen Erfolg verbuchte Daume die Vergabe der Olympischen Spiele 1972 nach München.
Hannover rückte noch zweimal in den besonderen Fokus der deutschen Sportpolitik. 1990 wurden am 14. Dezember die fünf neuen ostdeutschen Landessportbünde aus Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Sachsen in den DSB aufgenommen – diesmal im Kuppelsaal der Stadthalle. Den 50. Geburtstag feierte die Dachorganisation am 8. /9. Dezember 2000 mit einem Festakt im Hodlersaal und einer Festveranstaltung im Kuppelsaal, unter anderem mit Bundespräsident Johannes Rau. Am 20. Mai 2006 endete nach 56 Jahren die eigenständige Geschichte des DSB durch die Fusion mit dem NOK zum Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB).
Peter Hübner, Dezember 2020