Hannover 96 gewinnt zweiten Meistertitel
Die Vereinsfarben von Hannover 96 sind schwarz-weiß-grün. Doch im Fußball gelten die Niedersachsen als „Rote“. Beim zweiten und bisher letzten Gewinn der Deutschen Meisterschaft trat die Mannschaft am 23. Mai 1954 gegen die „Roten Teufel“ des 1. FC Kaiserslautern in grünen Trikots an – und siegte unerwartet mit 5:1.
Hannover – Sechs Wochen vor dem „Wunder von Bern“ ereignete sich am 23. Mai 1954 in Hamburg ein anderes Fußball-Wunder. Im 43. Finale um die Deutsche Meisterschaft bezwang der krasse Außenseiter Hannover 96 den klaren Favoriten 1. FC Kaiserslautern sensationell mit 5:1. Die meisten der 76 000 Zuschauer im Volksparkstadion – darunter Bundestrainer Sepp Herberger und mehr als 10 000 96-Fans – staunten um die Wette, als nicht Lauterns Nationalspieler Fritz Walter, sondern 96-Kapitän Werner Müller die Meisterschale in Empfang nahm. Überreicht wurde die sogenannte Salatschüssel von DFB-Präsident Peco Bauwens, der bei der Siegerehrung von einem „wenig bekannten Verein“ sprach.
„Offensichtlich war Hannover 96 in den Augen der DFB-Funktionäre ein ‚Provinzverein‘. Allerdings bezeugte der Entrüstungsschrei der Zehntausend den Irrtum des Gesagten“, heißt es in der Chronik „Hannover 96. 100 Jahre – Macht der Leine“. Immerhin hatten die Niedersachsen bereits 1938 in zwei äußerst umkämpften Endspielen gegen den FC Schalke 04 erstmals die Meisterschaft errungen. Der zweite 96-Titelgewinn durch das Team des hoch gelobten Trainers Helmut Kronsbein wurde danach in vielen Medien als ein ähnlicher Husarenstreich bewertet.
Fast 70 Jahre nach dem Triumph in Hamburg erinnerte die Vereinsführung von Hannover 96 mit einer besonderen Aktion an das historische Datum. Zum Zweitliga-Heimspiel gegen den damaligen Finalgegner 1. FC Kaiserslautern traten die 96-Profis am 16. März 2024 (1:1) mit speziell angefertigten Trikots im Oldie-Look an: Mit Kragen und Schnüren, ohne Logonamen, aber in Grün statt im sonst üblichen Rot.
1953 mussten die Norddeutschen, in Fan-Kreisen nur „Die Roten“ genannt, ebenfalls in grünen Trikots gegen die „Roten Teufel“ aus der Pfalz spielen. Bei der Präsentation der Spezial-Edition streifte sich auch der 91 Jahre alte Meisterspieler Rolf Gehrcke das Sondertrikot über. „Das ist eine wunderbare Sache, das nach 70 Jahren so zu würdigen“, erklärte Gehrcke.
Der 91-Jährige ist der letzte noch lebende Aktive aus der 54er-Meisterelf. Der damalige Architektur-Student profitierte damals vom Verletzungspech-Pech des etatmäßigen Außenläufers Willi Hundertmark, mit dem Hannover 96 in der Oberliga-Saison 1953/54 in überlegener Manier Nordmeister geworden war. Bereits in den Endrunden-Partien gegen den Berliner SV 92 (2:1) und VfB Stuttgart (3:1), in denen sich die Niedersachsen für das Finale qualifizierten, zeigte Gehrcke starke Leistungen.
„Traust Du Dir zu, gegen Fritz Walter zu spielen“, fragte Trainer Kronsbein seinen jüngsten Spieler. „Warum nicht“, antwortete der 21-Jährige. Gesagt, getan. Der 96-Coach, Spitzname „Fiffi“, schickte folgende Elf auf den Rasen des Volksparkstadions: Hans Krämer, Helmut Geruschke, Hannes Kirk, Werner Müller, Heinz Bothe, Rolf Gehrcke, Heinz Wewetzer, Rolf Paetz, Hans Tkotz, Clemens Zielinski und Helmut Kruhl. Auswechslungen waren damals noch nicht erlaubt.
Die Partie nahm zunächst den erwarteten Verlauf. Nationalspieler Horst Eckel (13.) brachte Titelverteidiger Kaiserslautern früh in Führung. Doch der Ausgleich durch 96-Torjäger Tkotz (44.) kurz vor der Pause stachelte den Außenseiter an. „In unserer Kabine herrschte Ruhe. Trainer Kronsbein motivierte uns: Macht weiter so, ihr habt sie im Sack. Noch ein Gegentor und sie brechen ein“, erinnerte sich später Tkotz an den Verlauf des Endspiels.
Ein Eigentor des späteren Weltmeisters Werner Kohlmeyer (48.) leitete die Wende ein. „Eine Depression ergriff uns, die mit dem tatsächlichen Kräfteverhältnis beinahe nichts mehr zu tun hatte. Unfähig, bis zum Letzten zu kämpfen, war es uns fast egal, ob es 4:1 ausging oder 5:1“, beschrieb Fitz Walter in seinem Buch „3:2. Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“ die 90 ungemütlichen Hamburger Minuten aus seiner Sicht. Im Endspurt schraubten Wewetzer (77.), Kruhl (80.) und Paetz (84.) das Endergebnis in eine deklassierende Höhe.
Die Begeisterung in der niedersächsischen Landeshauptstadt war schon vor dem Finale riesig gewesen. Das Deutsche Fernsehen (ARD) übertrug die Partie am Sonntagnachmittag um 15 Uhr live – als TV-Reporter kommentierte Bernhard Ernst das Geschehen. In fast jeder Gaststätte sowie in der Messehalle 3 hatten sich zahlreiche Fußball-Anhänger vor den TV-Geräten mit den relativ kleinen Bildschirmen zum damaligen Public Viewing versammelt.
Am Montag nach dem Finale bereiteten dann rund 200 000 Menschen dem Meisterteam auf dem Weg vom Bahnhof zur Maschsee-Gaststätte einen triumphalen Empfang. Die Spieler mussten in ihren offenen Wagen immer wieder die Silberschale und den Spielball zeigen. Als Siegprämie erhielten sie vom Verein 1000 Mark – mehr war damals nicht erlaubt.
Fritz Walter und die vier anderen Lauterer Nationalspieler Ottmar Walter, Werner Liebrich, Werner Kohlmeyer und Horst Eckel überwanden die Endspiel-Schmach ziemlich schnell. Bereits drei Tage später begann Bundestrainer Herberger in München-Grünwald mit der Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft in der Schweiz. Der Coach hielt am Lauterer Quintett fest und verzichtete auf Spieler von Meister Hannover 96.
Der Erfolg gab Herberger bei der nicht unumstrittenen Personalie Recht. Sechs Wochen nach dem Hamburger Favoritensturz bezwang die Nationalmannschaft am 4. Juli 1954 im WM-Finale den großen Favoriten Ungarn mit 3:2 und prägte damit den Begriff „Wunder von Bern“ für die deutsche Sportgeschichte.
Text: Peter Hübner, 05.05.2024
Literaturverzeichnis:
Notbremse/Hardy Grüne: Die Roten. Die Geschichte von Hannover 96, Göttingen 2006Lorenz Pfeifer/Gunter A. Pilz: Hannover 96. 100 Jahre – Macht an der Leine, Hannover 1996
Dirk Köster: Hannover 96 – die wichtigsten 100 Spiele. Geschichten, Berichte und Statistiken, Hildesheim 2023
Fritz Walter: 3:2. Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister, München, 1954, 2004